Von Marcia Pally
Wie es aussieht, scheint das momentane Zwischenzeugnis Europas in Sachen Obama so zu lauten: Wirtschaft – gut, Umwelt – gut, Rechtsstaatlichkeit – gut, Religion – verrückt. Warum beendet er seine Reden immer mit "God Bless America"? Warum hat er den evangelikalen Pastor Rick Warren das Eingangsgebet zu seiner Verteidigung halten lassen? Ist das etwa eine zynische Masche, will er der Religiösen Rechten Honig ums Maul schmieren?
Wer so denkt, verrät damit ein profundes Missverständnis Obamas und der USA. Es ist ein Bild Amerikas, gesehen durch die europäische Linse: durch die Linse der Inquisitionen, der Verfolgungen, der Religionskriege und der heuchlerischen, mit korrupten Aristokraten unter einer Decke steckenden Staatskirchen. Durch diese Linse betrachtet ist die Kirche suspekt und es ist der moderne säkulare Staat, der die Menschen vor der Unvernunft und Gewalt der Religion rettet.
Religion in Amerika ist nicht Religion in Europa
Aber das ist die Geschichte Europas, nicht die der USA. Amerika durch die Augen eines Europäers zu betrachten, ist ebenso wenig hilfreich, wie wenn zur Selbstüberschätzung neigende Amerikaner den Rest der Welt durch ihre Augen betrachten.
In Amerika ist die Religion seit 350 Jahren eine bewährte Institution. Sie hat vieles vom Besten in der amerikanischen Geschichte mit vorangetrieben: die Abolitionisten, die Bürgerrechts-, die Antikriegs- und die Arbeiterbewegung. Der Klerus des Ancien Régime, den die europäischen Aufklärer vom Sockel stürzte, war elitär und korrupt gewesen, die amerikanischen Kirchen dagegen – und insbesondere die evangelikalen Kirchen – waren und sind Graswurzelbewegungen, keine hierarchischen Organisationen, sondern ein Ding der Menschen. Natürlich gab es anfangs in einigen Kolonien offizielle Kirchen, aber auch dort konnten sich diskriminierende und tyrannische Praktiken nicht entwickeln.
Erstens waren viele Einwanderer, die nach Amerika kamen, vor der religiösen Intoleranz in ihrer Heimat geflohen und hatten deshalb ein starkes Interesse am Schutz der Religionsfreiheit. Zweitens waren die jungen Kolonien für ihr Überleben auf jede zusätzliche Hand angewiesen. Um Menschen der unterschiedlichsten Glaubensrichtungen zu anlocken, brauchten sie eine innere Verfassung, die niemanden wegen seines Glaubens diskriminierte.
Maryland verabschiedete 1649 ein Gesetz über religiöse Toleranz, Pennsylvania war von Anfang an ein Experiment in Sachen Toleranz, Carolina schrieb 1669 die Glaubensfreiheit in seiner Verfassung fest. Und selbst die puritanische Theokratie sah sich ab Mitte des 17. Jahrhunderts gezwungen, Nichtpuritaner aufzunehmen, um das Fortbestehen der Kolonie zu gewährleisten.
Die amerikanischen Kirchen arbeiteten nicht mit der britischen Kolonialmacht zusammen. Vielmehr traten sie ein für die republikanische Selbstverwaltung und die Common-Sense-Moralphilosophie der schottischen Aufklärer mit ihrer Betonung der Fähigkeiten des einfachen Menschen, die Welt zu verstehen, Urteile darüber zu treffen und sich selbst zu regieren. Sie hießen den empirischen Erkenntnisgewinn gut und vertraten die Auffassung, dass die Wissenschaft der Weg des Menschen sei, Gottes Schöpfung zu versehen. Als es zur Revolution kam, stellten sie sich hinter die Kolonisten, nicht hinter die Briten.
Der Staat und die Kirche
Ironischerweise stärkte statt schwächte die verfassungsmäßige Trennung von Staat und Kirche nach der Unabhängigkeit die Religiosität in Amerika. Weil die Kirchen außerhalb des Staates standen, blieben sie unbefleckt von den Korruptheiten der Politik und wurden stattdessen als die Stimme des Volkes gesehen. Insbesondere die Evangelikalen waren gegen den Föderalismus, gegen die Banken, gegen die Grundbesitzer, für die Landbesetzer, für Jefferson und für den Populisten Jackson. Ihre Vereinigungen befassten sich mit allem von der öffentlichen Erziehung und der Alkoholabstinenz bis hin zu Protesten gegen das von den Chinesen praktizierte Fußbinden und die Witwenverbrennungen der Inder.
Nur zum Vergleich: Der Postdienst war die größte US-Bundesbehörde vor dem Bürgerkrieg – aber die evangelikalen Gemeinschaften hatten doppelt so viele Menschen in Lohn und Brot stehen und drei Mal so viel Geld.
Nach dem Bürgerkrieg drängten die liberalen Strömungen innerhalb der evangelikalen Theologie noch stärker in den Vordergrund. An die Stelle des richtenden Gottes trat der liebende Gott, an die der ewigen Verdammnis die methodistische Vorstellung, dass dem Menschen seine Sünden nicht nur vergeben werden können, sondern dass er ganz von Sünde frei werden kann. Die Bibel wurde als metaphorisches und dichterisches Werk gelesen, nicht als mechanistische, wortwörtliche Wahrheit – was es vielen - wenn auch längst nicht allen - Evangelikalen erlaubte, den Darwinismus in ihrem Weltbild unterzubringen.
Mit den Auswüchsen der unregulierten Marktwirtschaft gegen Ende des 19. Jahrhunderts gewann die Social-Gospel-Bewegung an Zulauf, die sich um die Armen kümmerte und heftige Kritik am Kapitalismus übte. Der evangelikale Konservatismus war ein Spätentwickler, das Resultat zweier Gegenbewegungen im 20. Jahrhundert. Die erste, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, entstand aus dem Bruch zwischen der Social-Gospel-Bewegung und konservativen Evangelikalen, die in der Hilfe für sozial Schwache eine Ablenkung von der eigentlichen Aufgabe sahen, nämlich der Errettung von Seelen. Aufgeschreckt hatte die Konservativen darüber hinaus die »gottlose« bolschewistische Revolution, die »moralische Verderbtheit« des Jazz-Age und die deutsche historisch-kritische Bibelforschung, die ihre literalistische und simple Schriftauslegung infrage stellte.
Die "Neue Rechte"
Die zweite Gegenbewegung nahm ihren Anfang in den sechziger Jahren, als Evangelikale und Republikaner in Reaktion auf den »gottlosen Kommunismus«, die schwarze Bürgerrechtsbewegung, die Gegenkultur der Jugend und die Antivietnamkriegsproteste gemeinsame Sache machten. Diese »Neue Rechte« trat mit dem Ziel an, das Land von den Hippies zurückzuerobern, von den Leuten, die »Sonderrechte« für Schwarze und für Frauen forderten, und von den Kommunistenfreunden, denen, die »soft on communism« waren – kurz gesagt von allen, die in ihren Augen der individualistischen Eigenverantwortung Amerikas und seiner Mission, die illiberale Tyrannei überall auf der Welt zu bekämpfen, den Rücken gekehrt hatten.
Dennoch, diese konservativen Bewegungen innerhalb des amerikanischen Evangelikalismus können nicht einmal ansatzweise die positive Wertschätzung der Religion in Amerika aufwiegen. Schon lange vor Bush junior hat es gläubige amerikanische Präsidenten gegeben, die zu Gläubigen gesprochen haben (90 Prozent aller Amerikaner bezeichnen sich als religiös, 40 Prozent gehen nach eigenem Bekunden mindestens einmal wöchentlich zum Gottesdienst). Genau genommen haben sich die amerikanischen Präsidenten schon immer religiöser Bilder bedient, seit Jefferson bei seiner zweiten Vereidigung als Präsident unter anderem bekundete: »Ich bedarf der Gunst jenes göttlichen Wesens, in dessen Händen wir uns befinden, das unsere Väter – ebenso wie das alte Israel – herausführte aus dem Land ihrer Geburt…«
Lincoln verfasste »Meditations on Divine Will« – Meditationen zum göttlichen Willen – und in seiner Abschiedsansprache 1861 bekundete er: » Ohne die Beihilfe des göttlichen Wesens, das immer über ihn wachte, kann ich keinen Erfolg haben. Mit dieser Beihilfe kann ich nicht fehlgehen.«
Woodrow Wilson erklärte seinen Entschluss, die USA in den Ersten Weltkrieg zu führen, mit den folgenden und sich an Luthers berühmten Diktum auf dem Reichstag zu Worms »Hier stehe ich und kann nicht anders« angelehnten Worten: »Gott helfe ihm [Amerika], es kann nicht anders.«
Franklin Roosevelt hielt der Nation am D-Day keine Rede, sondern eine Predigt und endete mit den Worten: »Mit deinem Segen werden wir über die unheiligen Kräfte unseres Feindes triumphieren… Dein Wille geschehe. Amen.«
Truman erklärte 1949 in seiner Antrittsrede: »Mit dieser Hilfe des Allmächtigen Gottes… werden wir in der Lage sein, die großen Aufgaben zu meistern, die Er uns in dieser Zeit stellt«.
Und zwölf Jahre später mahnte Kennedy in seiner Antrittsrede: »Lasst uns vorangehen, dieses Land zu führen, das wir lieben, um Seinen Segen und Seine Hilfe bittend, aber in dem Wissen, dass hier auf Erden Gottes Arbeit wahrhaftig die unsere sein muss.« Nebenbei bemerkt: Jeder der hier zitierten US-Präsidenten seit Lincoln war ein Demokrat.
Obama reiht sich nahtlos ein
Auch Obama ist ein Gläubiger, und er kennt diese Geschichte durch und durch. Und er weiß, dass der Evangelikalismus, so sehr er auch nach rechtslastigem Provinzlertum aussehen mag, das bei Weitem nicht ist. Er weiß es wegen seiner Beteiligung an der Bürgerrechtsbewegung und wegen der wichtigen Verschiebungen, die sich derzeit im evangelikalen Lager abspielen.
Viele Evangelikale – von der Zahl her fast so viele, wie zur Religiösen Rechten gehören – wenden sich von der Republikanischen Partei ab und einer antimilitaristischen, antikonsumistischen und ökologisch bewussten Politik zu, die antritt, den Bedürftigen zu helfen und die Institutionen der Macht auszuhebeln.
Dazu gehört, dass sie die Trennung von Staat und Kirche, den Pluralismus, die Bekämpfung der Armut und den Umweltschutz stärker in den Mittelpunkt rücken. Wer allwöchentlich zum Gottesdienst geht, ist zwar zumeist immer noch gegen Abtreibungen und Homo-Ehen. Aber er tritt inzwischen eben auch häufiger ein für den Umweltschutz, für staatliche Wohlfahrtsprogramme und hält eher Diplomatie und nicht militärische Stärke für beste Mittel zur Friedenssicherung.
Diese »Neuen Evangelikalen« provozieren Kritik innerhalb ihrer Gemeinden und innerhalb der Republikanischen Partei. Womöglich schaffen sie es nicht, die Republikaner wirklich zu verändern, denen es unter dem Strich ja vor allem um eine unternehmerfreundliche Wirtschaftspolitik und nicht etwa um Religion geht.
Aber wenn die neuen Evangelikalen scheitern und die Republikaner nicht mehr ein auf Jesus trimmen, wohin werden sie sich dann mit ihrem politischen Aktivismus wenden? Sollten sie mit den Demokraten an der – inzwischen zur offiziellen demokratischen Position erhobenen – »Reduktion von Abtreibungen« zusammenarbeiten, könnte das Tür zu weiteren Kooperationen aufstoßen. Und sollten sie sich tatsächlich auf die Demokraten zu bewegen, dann nicht aufgrund irgendeines zynischen oder machtpolitischen Kalküls. Sie werden es tun, weil sie tief empfundene gemeinsame Überzeugungen teilen.
Marcia Pally, Professorin an der New York University, veröffentlichte zuletzt das Buch „Die hintergründige Religion“ über den Einfluss der evangelikalen Bewegung auf die US-Politik (Berlin University Press, 2008).
Übersetzung aus dem Englischen: Thomas Pfeiffer.
- Sämtliche Beiträge zum „Diary of Change“ - Ein Tagebuch zum Wechsel in Washington
- 23.2.09 - Sebastian Gräfe: Guantanamo zu, alles gut? Von der Ankunft in der Realität
- 22.2.09 - Liane Schalatek: Die Immobilienkrise in Washingtons Vorstädten: politische Schwarzweißmalerei mit Grautönen
- 21.2.09 - Bernd Herrmann: Richmond, Virginia: Im Süden was Neues
- 20.2.09 - Andrea Fischer: Die ewige Krise des amerikanischen Rentensystems
- 19.2.09 - Bernd Herrmann: Michigan: Kann der Rostgürtel recycelt werden?
- 18.2.09 - Andrea Fischer: Carmaker’s nightmare continues – die Autoindustrie ganz unten
- 17.2.09 - Andrea Fischer: Next step ahead – health care reform
- 16.2.09 - Andrea Fischer: Presidents’ day – celebrating Obama
- 15.2.09 - Andrea Fischer: Bipartisanship – ein weltweiter Hit, kleingekocht
- 14.2.09 - Liane Schalatek: „My Funny Valentine"— Obamas kurze Liebesaffäre mit der neuen "Postparteilichkeit"
- 13.2.09 - Andrea Fischer: Eine realistische Chance
- 11.2.09 - Robert Habeck: Der Präsident als Bürger. Kleine Ikonografie der Obama-Rhetorik
- 10.2.09 - Robert Habeck: Mit voller Kraft ins Unbekannte
- 9.2.09 - Robert Habeck: Selbsterfüllende Prophezeiungen. Ein Kaffeegespräch
- 8.2.09 - Robert Habeck: Obama, ein sehr amerikanischer Präsident
- 7.2.09 - Robert Habeck: Das andere Washington: Anacostia
- 6.2.09 - Robert Habeck: Das Werkzeug der Manipulation
- 5.2.09 - Robert Habeck: Tom daschelt Obama
- 4.2.09 - Marcia Pally: Erlöser oder Präsident? Obamas Alternativen
- 3.2.09 - Marcia Pally: Die ungestellten Fragen zur US-Innen- und Außenpolitik
- 2.2.09 - Marcia Pally: Obama: Breaking news vom Wochenende
- 1.2.09 - Marcia Pally: Obama und die „Neuen Evangelikalen“
- 31.1.09 - Marcia Pally: Bildungsmisere bei den Republikanern
- 30.1.09 - Marcia Pally: Ausgewogenheit und Hermeneutik im Nahen Osten
- 29.1.09 - Marcia Pally: Die Wiederherstellung des Glaubens
- 28.1.09 - Michael Werz: Krise ohne Ende - das 20. Jahrhundert als Hypothek
- 27.1.09 - Michael Werz im Gespräch mit dem neokonservativen Publizisten Gary Schmitt
- 26.1.09 - Liane Schalatek: „Purpose“ statt „Purchase“- Obama versucht die Transformation der US-Gesellschaft vom Konsumismus zum Kommunitarismus
- 26.1.09 - Michael Werz: „So wahr mir Gott helfe“ - Obama interpretiert die Unabhängigkeitserklärung neu
- 24.1.09 - Michael Werz im Gespräch mit dem Historiker David Hollinger
- 23.1.09 - Michael Werz: Außenpolitik und Krieg: Ist Barack Obama ein „Obamacon“?
- 22.1.09 - Michael Werz: Barack Obama und die Erbschaft Abraham Lincolns
- 22.1.09 - Reinhard Bütikofer: Wie stark ist Obamas Mehrheit
- 21.1.09 - Reinhard Bütikofer: A Defining Moment - Barack Obamas Antrittsrede
- 19.1.09 - Reinhard Bütikofer: Ein politischer Feldgottesdienst ...
- 18.1.09 - Reinhard Bütikofer: „Ich hoffe das auch.“
- Ralf Fücks: Diary of Change: Ein Tagebuch zum Wechsel in Washington
- Dossier: Barack Obama - Im Westen was Neues